Reise um die Erde – Schloss Hohenschwangau

Kaum hatten wir den letzten Luftwirbel über Neuschwanstein hinter uns gelassen, als das fliegende Fahrrad schon wieder einen leichten Bogen beschrieb, fast so, als folgte es nicht der Technik, sondern einer Ahnung, einem inneren Kompass der Erinnerung. Denn nur einen Steinwurf entfernt, ein wenig tiefer im Tal, offenbarte sich uns das Schloss Hohenschwangau – kleiner, sanfter, doch keineswegs minder bedeutungsvoll.

Wie ein vergilbtes Aquarell lag es da, am Ufer des Alpsees, eingefasst von bewaldeten Hügeln, mit seinen ockergelben Mauern und den zinnenbekrönten Türmchen, als sei es aus den Seiten eines Kinderbuches herausgetreten. Keine Trutzburg, keine Opernkulisse – sondern ein Ort des Rückzugs, der Kindheit, des werdenden Traumes.

Hohenschwangau von Neuschwanstein1

„Hier begann alles“, murmelte mein Gefährte, als wir sachte zur Landung ansetzten – zwischen zwei Zypressen, auf einer verwitterten Balustrade aus der Biedermeierzeit.

Schloss Hohenschwangau, im 19. Jahrhundert aus den Ruinen einer mittelalterlichen Burg neu errichtet, war Ludwigs erste Bühne – die Kulisse seiner jungen Jahre, seiner ersten Gedankenflüge. König Maximilian II., sein Vater, hatte es mit Wandgemälden ausschmücken lassen, mit Sagenmotiven, Schlachtenbildern und alten Legenden aus dem deutschen Raum. Und der junge Ludwig, kaum dem Knabenalter entwachsen, wanderte durch diese Hallen wie durch eine Welt aus Mythen und Möglichkeiten.

In der sogenannten „Tasso-Loggia“ las er – flankiert von Fresken des fahrenden Dichters – Verse, die das Herz eines jungen Königs pochen ließen. Im Heldenzimmer träumte er von Lohengrin, der nicht nur der Schwanenritter war, sondern auch eine Art Spiegelbild des einsamen Thronfolgers. Und vom Balkon aus, so heißt es, betrachtete Ludwig oft stundenlang jenen Felsrücken, auf dem später jenes märchenhafte Schloss entstehen sollte, das er sich selbst erdacht hatte.

Hohenschwangau schloss 11

Es war ein zärtlicher Gegensatz zu Neuschwanstein: Wo dort der Traum zur Monumentalität aufstieg, war hier alles noch Durchlässigkeit, Vorempfindung, eine Kindheit des Geistes. Selbst die Räume wirkten wohnlicher, verwurzelter – ein Zuhause, kein Denkmal.

Der Alpsee unter uns glänzte wie flüssiges Glas, unberührt, als sei er selbst ein Spiegel für jene Seelenlandschaft, die zwischen Hohenschwangau und Neuschwanstein entstand: Kindheit und Vision, Erinnerung und Entwurf.

„Vielleicht“, so sagte mein Gefährte leise, während wir wieder an Höhe gewannen, „liegt das wahre Königreich nicht in Türmen oder Throne – sondern in jenen unscheinbaren Stunden, die uns lehren, zu träumen.“

Es heißt, König Ludwig habe nicht nur von Schwanenrittern, Gralsburgen und unterirdischen Tempeln geträumt – sondern auch von etwas, das seiner Zeit ebenso fern war wie der Flug der Menschen: von einer Maschine, die ihn durch die Lüfte tragen würde.

In den Aufzeichnungen seiner engsten Vertrauten, in Briefen, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren, tauchen immer wieder Andeutungen auf: von „fliegenden Wagen“, „schwebenden Thronen“ und „ätherischen Schiffen“, die sich der Schwerkraft entziehen und die Welt von oben betrachten könnten – gleich göttlichen Beobachtern.

„Wie wäre es“, so soll er einst gesagt haben, „wenn ein König nicht mehr auf Wegen reisen müsste, die vom Volk getreten sind – sondern auf Pfaden, die nur der Himmel kennt?“

KI-generiert

Manche sagen, Ludwig habe sogar mit einem Mechaniker aus Wien korrespondiert, einem gewissen Herr Neubronner, der sich mit den „Luftschiffen“ beschäftigte, die Jules Verne beschrieb. Andere berichten von nächtlichen Experimenten auf dem Schlossgelände – Gerätschaften, die mit flatternden Segeln im Wind ruckten, von Stallknechten beäugt wie von Bauerngeistern.

„Nicht die Flucht vor der Welt suche ich“, schrieb Ludwig einst, „sondern einen neuen Ort in ihr – dort, wo das Oben kein Oben mehr ist, sondern Möglichkeit.“

Vielleicht war es bloße Spinnerei. Vielleicht auch ein Spiegel jener tiefen, unstillbaren Sehnsucht, die ihn durchdrang: die Sehnsucht, den Dingen zu entkommen, ohne sie zu zerstören. Die Sehnsucht, aus der Ferne zu betrachten, was ihm aus der Nähe weh tat.

Und wer weiß – wäre ihm mehr Zeit geblieben, mehr Verbündete, mehr Verständnis –, vielleicht hätte man irgendwann über Hohenschwangau ein merkwürdiges Brummen gehört, ein Rattern, ein erstes Kreisen: ein geflügeltes Gefährt, halb Maschine, halb Mythos, mit einem einsamen König an Bord, dessen Blick sich endlich vom Irdischen lösen durfte. Doch so blieb es ein Traum.

Ein Traum, der nun – wer weiß? – in unserm fliegenden Fahrrad weiterlebt. In dem Propeller, der sich dreht, in jeder leisen Vibration unter unseren Füßen. Als hätte Ludwig nicht nur Burgen gebaut, sondern auch unsere Fahrt vorhergesehen – als sei dieser Flug selbst ein Echo seines Verlangens, der Himmel möge endlich Einlass gewähren.

Wir ließen das Tal der Schwäne hinter uns, das Licht fiel schräg auf die Wälder, und in der Ferne kündigte sich bereits das nächste Kapitel an – fremder vielleicht, weiter, doch immer getragen von dem inneren Faden, der uns durch diese Welt zog: ein Flug nicht nur durch Länder, sondern durch die Vorstellungen ihrer Träumer.


Reise um die Erde – Schloss Neuschwanstein

Nachdem wir den Drachenfels samt seiner mythischen Schatten hinter uns gelassen hatten, erhob sich unser fliegendes Fahrrad erneut, als ob es selbst von der Romantik der Rheinlandschaften beflügelt sei. Der Propeller schnurrte leise, die Speichen summten wie die Saiten einer ätherischen Harfe, der Horizont weitete sich – und bald schon ließ das Rheintal seinen Griff los, gab uns frei für eine neue Etappe gen Süden.

Wir überquerten Wälder, Täler, Städte – der Lauf der Donau blitzte fern am Horizont – bis schließlich, nach Stunden des lautlosen Schwebens, am Rande der bayerischen Alpen ein Bild erschien, das selbst die Phantasie eines Dante oder Dumas kaum hätte ersinnen können:

Schloss Neuschwanstein – eine Vision aus Türmen und Träumen, aus Kalkstein und Königswillen. Wie ein Trugbild auf einem Felsrücken thronend, umgeben von Tannen, Nebelschwaden und schroffen Berghängen, lag es da, als sei es nicht erbaut, sondern herbeigewünscht worden.

Neuschwanstein Castle

„Ein Schloss, das nicht der Verteidigung, sondern dem Träumen dient“, hätte unser Chronist gesagt – und recht gehabt.

Errichtet wurde dieses Wunderwerk ab dem Jahre 1869 auf Wunsch jenes sonderbaren Monarchen, der die Grenzen des Möglichen stets ins Reich der Fantasie zu verschieben suchte:

König Ludwig II. von Bayern. Der Märchenkönig – so nannte ihn das Volk, teils ehrfürchtig, teils spöttisch. Doch wer ihn verstand, der sah: Ludwig war kein Tor, sondern ein Romantiker aus einer anderen Zeit. Ein einsamer Idealist, der die Opernwelten Richard Wagners nicht nur hören, sondern leben wollte.

König Ludwig II. von Bayern in Generalsuniform mit dem Krönungsmantel

Neuschwanstein war seine Bühne – ein Gralskastell, inspiriert von Parsifal und Lohengrin, durchdrungen von Sagen, Symbolen und Sehnsucht. Die Hallen des Schlosses, prunkvoll geschmückt mit Wandgemälden aus der deutschen Heldensage, schienen nicht zu enden: da war der Thronsaal mit seinen goldenen Mosaiken wie aus Byzanz, der Sängersaal – ein Klangtempel ohne Klang –, und Ludwigs private Gemächer, kunstvoll wie eine spätmittelalterliche Handschrift illuminiert.

Man erzählt sich, der König habe oft auf der Terrasse gestanden, den Blick gen Himmel gerichtet, wenn sich Kraniche oder Adler über dem Forggensee erhoben – und dass ihn dann ein sonderbarer Gedanke umfangen habe: Wie wäre es, selbst zu fliegen? Nicht in Gedanken, nicht in Musik, sondern mit einer Maschine – durch die Lüfte, hoch hinauf, dem Himmel entgegen! Schon lange vor den Brüdern Wright träumte Ludwig von einer mechanischen Schwinge, einem Wagen des Windes, einem geflügelten Apparat, der ihn forttragen würde – über die Gipfel der Alpen, über die Zeit, fort vom Regieren, hin zum Träumen. Aber das ist eine andere Geschichte auf unserer Reise.

„Ein fliegender Thron für einen König der Wolken“ – so soll er es einst genannt haben.

Gegenüber, in luftiger Höhe, spannte sich die Marienbrücke 90 m über die Pöllatschlucht – ein kühnes Stahlbauwerk, benannt nach Ludwigs Mutter, von dem aus sich ein Anblick bietet, der selbst dem nüchternsten Kartographen das Herz höherschlagen lässt: das Schloss in seiner ganzen Pracht, vor der Kulisse der Berge, als hätte ein Engel es mit Feder und Licht gezeichnet.

Das Märchenschloss wurde Ludwig zum Rückzugsort, zur Fluchtburg gegen die Härte der Welt. Noch vor Vollendung des Baus wurde der König für geisteskrank erklärt, abgesetzt – und kurz darauf, auf geheimnisvolle Weise, tot im Starnberger See aufgefunden. Das Schloss aber blieb – ein Denkmal seines inneren Universums, aus Stein gehauen, gegen Zeit und Zweifel.

„Vielleicht“, so raunte mein Gefährte und trat sachte in die Pedale, „wird man in hundert Jahren sagen, dieser König sei zu früh geboren worden – oder schlicht im falschen Jahrhundert.“

So zogen wir noch eine elegante Schleife um die Zinnen, ließen unser fliegendes Fahrrad eine letzte Pirouette über der Marienbrücke tanzen, warfen einen letzten Blick auf die Schwanenbanner und das goldene Kreuz auf dem höchsten Turm – und setzten unsere Reise fort, bewegt, beglückt, und ein wenig melancholisch.

02.10.2010. Hohenschwangau - panoramio (5)

Reise um die Erde – Drachenfels

Kaum hatten wir Oberpleis hinter uns gelassen, trugen uns die Strömungen des Westwinds wieder gen Rhein – jener uralte Strom, der wie eine silbern schimmernde Ader das Herz Europas durchzieht. Wir folgten seinem Lauf, und bald schon öffnete sich vor uns ein Schauspiel von solcher Anmut, dass selbst der nüchternste Geograph in Bewunderung hätte verstummen müssen.

Dort – stolz, geheimnisvoll, fast entrückt – erhob sich der Drachenfels, jener sagenumwobene Basaltkegel, der seit Äonen über das Rheintal wacht. An seinen steilen Flanken klebt, gleich einer Krone aus Stein, die ehrwürdige Drachenfelsruine, einst Bollwerk der Ritter, nun ein Monument der Romantik. Und nicht weit darunter, an geschützter Stelle über den Reben, thront die Drachenfelsburg, das neugotische Schloss mit seinen Zinnen, Erkern und Türmchen – errichtet im 19. Jahrhundert als Residenz eines preußischen Barons, gleichsam ein Traum aus Sandstein und Zeitgeist.

Unsere Blicke schweiften – wie magisch angezogen – über das weite Panorama. Von hier oben offenbarte sich das Rheintal in seiner ganzen Majestät: grüne Ufer, das silberne Band des Stromes, und inmitten desselben, wie eine vergessene Perle, die Insel Nonnenwerth, wo einst Benediktinerinnen beteten, und bis in die jüngere Vergangeheit junge Geister das Wissen der Zukunft erhalten haben.

Wie von Geisterhand gezogen, schlängelte sich unter uns die berühmte Drachenfelsbahn den Hang hinauf – eine der ältesten Zahnradbahnen Europas, in Betrieb seit dem Jahre 1883. Ihre kleinen Wagen, angetrieben vom Fleiß der Technik, erklimmen stetig das Massiv, als wollten sie den uralten Drachen selbst aufs Neue herausfordern.

Denn, so will es die Legende, sei es eben ein Drache gewesen, der einst auf dem Gipfel hauste – ein feuriges Ungeheuer, das nur durch den Mut des Ritters Siegfried bezwungen werden konnte. Das Blut des Drachens soll den Helden unverwundbar gemacht haben, so berichten die alten Sänger. Seither trägt der Fels seinen Namen – Drachenfels, der Berg des Drachens.

„Es sind nicht allein Höhenmeter, die uns den Atem rauben – es ist die Geschichte, die in jeder Fuge des Gesteins widerhallt.“

So verweilten wir mit diesem Zitat von Jules Verne einen Moment im Schweben, ehrfürchtig über diesem Ort, wo sich Natur, Mythos und Technik die Hand reichen.