Reise um die Erde – Schloss Neuschwanstein

Nachdem wir den Drachenfels samt seiner mythischen Schatten hinter uns gelassen hatten, erhob sich unser fliegendes Fahrrad erneut, als ob es selbst von der Romantik der Rheinlandschaften beflügelt sei. Der Propeller schnurrte leise, die Speichen summten wie die Saiten einer ätherischen Harfe, der Horizont weitete sich – und bald schon ließ das Rheintal seinen Griff los, gab uns frei für eine neue Etappe gen Süden.

Wir überquerten Wälder, Täler, Städte – der Lauf der Donau blitzte fern am Horizont – bis schließlich, nach Stunden des lautlosen Schwebens, am Rande der bayerischen Alpen ein Bild erschien, das selbst die Phantasie eines Dante oder Dumas kaum hätte ersinnen können:

Schloss Neuschwanstein – eine Vision aus Türmen und Träumen, aus Kalkstein und Königswillen. Wie ein Trugbild auf einem Felsrücken thronend, umgeben von Tannen, Nebelschwaden und schroffen Berghängen, lag es da, als sei es nicht erbaut, sondern herbeigewünscht worden.

Neuschwanstein Castle

„Ein Schloss, das nicht der Verteidigung, sondern dem Träumen dient“, hätte unser Chronist gesagt – und recht gehabt.

Errichtet wurde dieses Wunderwerk ab dem Jahre 1869 auf Wunsch jenes sonderbaren Monarchen, der die Grenzen des Möglichen stets ins Reich der Fantasie zu verschieben suchte:

König Ludwig II. von Bayern. Der Märchenkönig – so nannte ihn das Volk, teils ehrfürchtig, teils spöttisch. Doch wer ihn verstand, der sah: Ludwig war kein Tor, sondern ein Romantiker aus einer anderen Zeit. Ein einsamer Idealist, der die Opernwelten Richard Wagners nicht nur hören, sondern leben wollte.

König Ludwig II. von Bayern in Generalsuniform mit dem Krönungsmantel

Neuschwanstein war seine Bühne – ein Gralskastell, inspiriert von Parsifal und Lohengrin, durchdrungen von Sagen, Symbolen und Sehnsucht. Die Hallen des Schlosses, prunkvoll geschmückt mit Wandgemälden aus der deutschen Heldensage, schienen nicht zu enden: da war der Thronsaal mit seinen goldenen Mosaiken wie aus Byzanz, der Sängersaal – ein Klangtempel ohne Klang –, und Ludwigs private Gemächer, kunstvoll wie eine spätmittelalterliche Handschrift illuminiert.

Man erzählt sich, der König habe oft auf der Terrasse gestanden, den Blick gen Himmel gerichtet, wenn sich Kraniche oder Adler über dem Forggensee erhoben – und dass ihn dann ein sonderbarer Gedanke umfangen habe: Wie wäre es, selbst zu fliegen? Nicht in Gedanken, nicht in Musik, sondern mit einer Maschine – durch die Lüfte, hoch hinauf, dem Himmel entgegen! Schon lange vor den Brüdern Wright träumte Ludwig von einer mechanischen Schwinge, einem Wagen des Windes, einem geflügelten Apparat, der ihn forttragen würde – über die Gipfel der Alpen, über die Zeit, fort vom Regieren, hin zum Träumen. Aber das ist eine andere Geschichte auf unserer Reise.

„Ein fliegender Thron für einen König der Wolken“ – so soll er es einst genannt haben.

Gegenüber, in luftiger Höhe, spannte sich die Marienbrücke 90 m über die Pöllatschlucht – ein kühnes Stahlbauwerk, benannt nach Ludwigs Mutter, von dem aus sich ein Anblick bietet, der selbst dem nüchternsten Kartographen das Herz höherschlagen lässt: das Schloss in seiner ganzen Pracht, vor der Kulisse der Berge, als hätte ein Engel es mit Feder und Licht gezeichnet.

Das Märchenschloss wurde Ludwig zum Rückzugsort, zur Fluchtburg gegen die Härte der Welt. Noch vor Vollendung des Baus wurde der König für geisteskrank erklärt, abgesetzt – und kurz darauf, auf geheimnisvolle Weise, tot im Starnberger See aufgefunden. Das Schloss aber blieb – ein Denkmal seines inneren Universums, aus Stein gehauen, gegen Zeit und Zweifel.

„Vielleicht“, so raunte mein Gefährte und trat sachte in die Pedale, „wird man in hundert Jahren sagen, dieser König sei zu früh geboren worden – oder schlicht im falschen Jahrhundert.“

So zogen wir noch eine elegante Schleife um die Zinnen, ließen unser fliegendes Fahrrad eine letzte Pirouette über der Marienbrücke tanzen, warfen einen letzten Blick auf die Schwanenbanner und das goldene Kreuz auf dem höchsten Turm – und setzten unsere Reise fort, bewegt, beglückt, und ein wenig melancholisch.

02.10.2010. Hohenschwangau - panoramio (5)