Nachdem wir Schloss Neuschwanstein und die geisterhafte Silhouette des Luftthrons mit einem letzten Blick bedacht hatten – der Baldachin noch flatternd im Wind wie ein Banner aus einer besseren Welt –, lenkten wir unser fliegendes Fahrrad weiter südwärts. Die Alpengipfel rückten näher, ihre Flanken von Schneefeldern durchzogen wie mit weißem Marmor gezeichnet, und unter uns glitten Seen dahin wie Spiegel, die das Himmelsblau träumten.
Der Fahrtwind war kühler geworden, doch die Luft war erfüllt von einer Klarheit, wie sie nur in Höhen und Visionen vorkommt. Zwischen dichten Tannen und kalkhellen Felsen, zwischen Weidehügeln und einsamen Gehöften öffnete sich plötzlich das Panorama einer barocken Symmetrie – monumental und doch eingebettet wie ein Gebet in die Landschaft: Kloster Ettal.

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Eine Krone aus Ziegeln, Kuppeln und Kreuzgängen, auf einem Hochplateau ruhend wie ein gestrandetes Himmelsschiff, das sich nicht verirrt hatte, sondern angekommen war. Der Putz des Haupttrakts schimmerte elfenbeinfarben im Nachmittagslicht, und über allem wölbte sich die große Kuppel der Basilika – ein firmamentenes Auge, das sich zum Ewigen öffnet.
Unser Fahrrad senkte sich in eleganter Spirale, fast ehrfürchtig, als wolle es sich verbeugen. Auf dem Vorplatz landeten wir lautlos – nur die Speichen summten noch leise nach wie das Echo eines gregorianischen Gesangs.
„Ettal“, murmelte mein Gefährte, während er den Motor entlüftete, „ein Ort, an dem Geist und Form einander nicht bekämpfen, sondern verklären.“
Gegründet anno 1330 durch Kaiser Ludwig den Bayern, einst als Gegenpol zur städtischen Welt gedacht, war das Kloster im Lauf der Jahrhunderte zu einem barocken Bollwerk geworden – der Glaube in Stuck und Stein gegossen, schwer und licht zugleich.¹)
Wir traten durch das Hauptportal. Der Innenraum der Basilika – ein Theater der Transzendenz. Fresken wölbten sich über uns wie Himmelsvisionen, in denen Engel schwebten, Heilige blickten, goldene Lichtstrahlen von ovalen Fenstern auf Altar und Gestühl fielen wie göttlich gesetzte Taktstriche. Der Duft von Weihrauch und alten Büchern lag in der Luft. Stille – aber keine Leere.
In der Sakristei sprach uns ein Benediktiner an, in schwarzer Kutte, mit einem Blick, der zugleich prüfte und segnete. Wir zeigten ihm eine Zeichnung – das Fragment aus Ludwigs Skizzenbuch, das den Luftthron zeigte, von einer Hand gezeichnet, die mehr betete als plante.
Der Mönch schwieg einen Moment, betrachtete die Linien, dann sagte er leise:
„Er war oft hier. Nicht mit Gefolge. Allein. Und manchmal sprach er von Dingen, die fliegen. Nicht wie Vögel – eher wie Seelen.“
Wir nickten. Ja, das klang nach ihm.
Zum Abschied führte man uns in die Klosterbibliothek – ein Raum, der weniger gebaut als herbeigedacht schien. Regale bis zur Decke, Goldschnitt, Manuskripte aus Jahrhunderten. Und dort, zwischen einem Sammelband von Athanasius Kircher und einem alchemistischen Traktat aus dem 17. Jahrhundert, fanden wir es: ein kleines, unscheinbares Heft, beschriftet in flüchtiger Hand:
„Aeronautica mystica. Reise um die Erde“
Der Einband war dunkelblau, durchwirkt mit feinen, goldenen Sternen. Wie der Himmel über Ludwigs Thron.
¹) Fußnote: Die Klosteranlage wurde 1330 von Ludwig IV. dem Bayern als Benediktinerabtei gegründet. Nach einem Brand im 18. Jahrhundert entstand die heutige barocke Gestalt, insbesondere durch die Kuppelbasilika von Joseph Schmuzer – ein Meisterwerk des süddeutschen Rokoko.